Friedhofsdokumentation
Vorwort
Zu den ersten Aufgaben, die der Zentralrat der Juden in Deutschland unmittelbar nach seiner Gründung im Jahre 1950 in Angriff nahm, gehörte die Instandsetzung und die Regelung einer dauerhaften Pflege der jüdischen Friedhöfe auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Die zu diesem Zweck gebildete Kommission für Friedhofsangelegenheiten nahm Verhandlungen mit den deutschen Regierungsstellen auf und erarbeitete unter Vorsitz von Dr. E.G.Lowenthal eine Liste aller jüdischen Friedhöfe im Bundesgebiet. Vor dem Krieg war Friedhofspflege eine Angelgenheit der lokalen Gemeinden und Verbände, es existierten also auch keine landesweiten Übersichten, auf die man in der neuen Situation hätte zurückgreifen können. Eine Liste, wie sie 1953 von Lowenthal vorgelegt wurde (Lowenthal 1953), auf der für die drei Westzonen gut 1600 Friedhöfe mit genauer Orts- und Flächenangabe verzeichnet waren, hatte es bis dahin nicht gegeben. Auf der Grundlage dieser Daten kam dann 1956/57 eine bundesweite Übereinkunft der Länder zustande, wonach Bund und Länder je zur Hälfte die Kosten für die Pflege übernahmen. Einige Jahrzehnte später begann sich der Wunsch zu regen, die jüdischen Friedhöfe nicht nur als stumme Zeugen der Vergangenheit zu bewahren, sondern sie auch als Geschichtsquelle zu nutzen. 1971 veröffentlichte Lowenthal einen Artikel in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung (Lowenthal 1971), in dem er unter Bezug auf erste vereinzelte Arbeiten eine systematische Beschäftigung mit dem Inschriftenmaterial der jüdischen Friedhöfe anzuregen versuchte. Ehe sie vollständig verwittern, sollten die Grabinschriften entziffert, festgehalten und wissenschaftlich genutzt werden. Wünschenswert wäre, wenn "sich die zentralen jüdischen Instanzen in Deutschland und die Spitzengremien der aus Deutschland ausgewanderten Juden im Zusammenwirken mit zuständigen deutschen wissenschaftlichen Stellen" die Erforschung der Inschriften zu einer vordringlichen Aufgabe machen würden. Tatsächlich ist es in den letzten drei Jahrzenten zu einer Dokumentationstätigkeit ungekannter Intensität gekommen, wenn auch die organisatorische Entwicklung in etwas anderen Bahnen verlief als Lowenthal dies vorgeschwebt hatte. Zahlreiche Personen und Institutionen gingen unabhängig voneinander und weitgehend unkoordiniert an die Arbeit. Seit 1985 sind auch die in Heidelberg befindlichen Institutionen des Zentralrats, zuerst die Hochschule für Jüdische Studien und ab 1987 das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland mit beträchtlichem Aufwand an der Dokumentation jüdischer Grabinschriften beteiligt. Nachdem von Heidelberg aus so gut wie alle jüdischen Grabsteine im Bundesland Baden-Württemberg und in Zusammenarbeit mit dem Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen auch etwa 5000 Grabsteine in Niedersachsen fotografiert worden sind, und klar wurde, daß die Kräfte für eine einheitliche Bearbeitung der jüdischen Friedhöfe im gesamten Bundesgebiet nicht ausreichen würden, ging man dazu über, Informationen über die Dokumentationstätigkeit anderer Personen und Institutionen zusammenzutragen, um zunächst eine Übersicht über die bereits geleistete Arbeit zu gewinnen, und dementsprechend den noch vorhandenen Handlungsbedarf besser abschätzen zu können. Die Ergebnisse der jahrelangen Sammeltätigkeit werden jetzt gesichtet, vervollständigt und systematisiert. Zur Präsentation des Datenmaterials bot sich INTERNET als ein geeignetes Medium an, nicht zuletzt wegen der Möglichkeit ständiger Vervollständigung und Aktualisierung. Aber auch die mehrdimensionale Darstellung durch intensiv miteinander verlinkte Listen wurde als eine der Aufgabenstellung besonders gut angepaßte Kommunikationsstruktur empfunden (siehe dazu auch Honigmann 1998, S. 109ff). Als erstes sind die Friedhöfe in Niedersachsen bearbeitet worden. Die anderen Bundesländer sollen folgen.
Es wird dabei nicht verkannt, daß in einzelnen Bundesländern bereits ernsthafte Bemühungen um Übersicht in Gang gekommen sind, und zu ersten Ergebnissen geführt haben (z.B. Brocke 1994, Heinemann 1997, Peters/Strehlen 1998. Eine gute Übersicht über die jüdischen Friedhöfe in Bayern ist auch in München beim Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern vorhanden.). So verschieden wie die Autoren bzw. Träger dieser regionalen Übersichten sind jedoch auch die Zielstellungen und Methoden. Wenn die Übersicht nicht nur Genealogen befriedigen, sondern auch der weiteren Planung der Dokumentationstätigkeit dienen soll, kann man sich mit derartigen Heterogenitäten nicht begnügen. Je zahlreicher und gründlicher die regionalen Vorarbeiten ausfallen, um so besser werden die Voraussetzungen für die Gesamtübersicht, bei der es immerhin um eine Zahl von mehr als 2000 jüdischen Friedhöfen auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik geht. Die Beschränkung auf ein Bundesland ist auch schon deshalb problematisch, weil zahlreiche Projektgruppen über Landesgrenzen hinweg tätig geworden sind (z.B. Bamberger, Groningen, Schaller, Schmidt-Bollmann, Zentralarchiv). Gerade der Beschreibung der verschiedenen Projekte kommt in Hinblick auf eine wissenschaftliche Planung und Bewertung der Dokumentationstätigkeit einige Bedeutung zu.
Im Vordergrund der vorliegenden Übersicht steht die Dokumentation der Grabinschriften. Unter Dokumentation der Grabinschriften werden dabei all jene Informationen verstanden, die ausgehend von den Grabsteinen auf dem Friedhof gewonnen wurden. Keine Berücksichtigung finden deshalb Bücher, Verzeichnisse und Niederschriften, die im Zusammenhang mit dem Tod und dem Vorgang der Beerdigung entstanden sind, wie etwa Sterbebücher, fortlaufend geführte Belegungslisten jüdischer Friedhöfe usw. Es wäre sicher nützlich, auch von dieser Quellengruppe ein übersichtliches Bestandsverzeichnis zu erarbeiten, der dafür erforderliche Aufwand ist jedoch nicht unerheblich. Die hier gebotene Übersicht beschränkt sich lediglich auf einen Nachweis der nachträglich entstandenen Dokumentationsergebnisse. Es geht nur um die Datenträger, auf welche Informationen vom Grabstein kopiert wurden, egal ob per Hand oder durch Fotografieren. Eine Belegungsliste, die fortlaufend von der Friedhofsverwaltung geführt wurde, bleibt also unberücksichtigt. Eine Belegungsliste jedoch, die nachträglich anhand der Grabinschriften erarbeitet wurde (siehe z.B. die Projektbeschreibung Nußbaum), wird als Dokumentationsergebnis bertrachtet und folglich in dieser Übersicht nachgewiesen. In der Praxis ist der Verlust der Originalunterlagen oft das Motiv für die nachträgliche Rekonstruktion einer Belegungsliste anhand der Grabinschriften.
Die Übersicht besteht aus drei durch zahlreiche links miteinander verknüpfte Listen. In einer Liste werden die Friedhöfekurz beschrieben und Hinweise auf abgeschlossene oder noch laufende Dokumentationstätigkeit sowie auf Veröffentlichungen gegeben. In einer zweiten Liste werden die Dokumentationsprojekte präsentiert und die dritte Liste ist im wesentlichen das Verzeichnis der zitierten Literatur. Obwohl im Vordergrund der Übersicht die Dokumentation der Inschriften steht, wurden in die Liste der Friedhöfe auch all jene Friedhöfe aufgenommen, auf denen heute keine Grabsteine mehr stehen, und zwar aus mehreren Gründen. Die Aufnahme nicht mehr existierender Friedhöfe dient zunächst der Eindeutigkeit. Die Übersicht soll jedem Interessenten die Möglichkeit geben, allen Erwähnungen von jüdischen Friedhöfen, besonders dann, wenn die Formulierungen etwas unklar sind, nachzugehen und sich ein möglichst genaues Bild zu machen. Sodann muß die Aussage, daß auf einem Friedhof heute keine Grabsteine mehr stehen, für die Kenntnis der Inschriften nicht das letzte Wort sein. Die Inschriften können vor der Zerstörung der Steine dokumentiert worden sein, oder es können Steine wiedergefunden werden. Für beides gibt es Beispiele in Niedersachsen. So hat z.B. Gerhard Ballinin Imbshausen im Jahre 1941 die wichtigsten Angaben von den damals noch vorhandenen 25 Grabsteinen abgeschrieben. 1951 sind dann fast alle Steine zertrümmert und für den Bau eines Hauses verwendet worden. Die Dokumentation der Inschriften kann auch nach Entfernung der Steine vom Friedhof erfolgt sein, so geschehen in Stade, wo die fotografische Aufnahme der Inschriften durch das nationalsozialistische Reichsinstitutfür die Geschichte des neuen Deutschland erst angeordnet wurde, nachdem der Friedhof 1940 bereits abgeräumt worden war. Von ursprünglich 30 Grabsteinen stehen auf diesem Friedhof heute nur noch 3. In Bad Pyrmont ist umgekehrt ein Friedhof, der schon vollkommen eingeebnet war, zu einem großen Teil wiederhergestellt worden. Nachdem bereits in den ersten Nachkriegsjahren 22 Steine wiederaufgestellt werden konnten, sind erst 1996 weitere 57 Steine ausgegraben und aufgerichtet worde. Ein Arbeitskreis hat daraufhin mit der Dokumentation der Inschriften begonnen. Bei der Dokumentation von Inschriften geht es jedoch nicht nur um die Gewinnung historischer Daten, in der Regel wird diese Tätigkeit auch als ein Akt der Erinnerung und der Pietät begriffen. Die Bewahrung der Gräber, auch wenn dort kein Grabstein steht, entweder weil er nie gesetzt wurde oder weil er inzwischen entfernt oder zerstört worden ist, ist gerade in diesem Sinne von Bedeutung. Ebenso wie die Umfriedung mit einer Hecke oder einem Zaun kann vielleicht auch die Erwähnung in einer Liste dazu beitragen, daß die Ruhe der Toten respektiert wird.
Die Friedhöfe werden durch die ursprünglichen historischen Ortsnamen bezeichnet, auch wenn dieser Ort inzwischen in eine größere Verwaltungseinheit eingemeindet wurde. Dieses Verfahren hat den Vorteil, daß die mitunter verwendeten Doppelnamen vermieden werden, was zugleich der Einfachheit und der Eindeutigkeit zugute kommt.Um trotzdem einen Zugang ausgehend von den heutigen Verwaltungsstrukturen zu ermöglichen, wurde in einer zusätzlichen Datei die Kreiseinteilungreproduziert. Von dort kann man leicht den Weg zu den Friedhöfen in den einzelnen Orten eines jeden Landkreises finden.
Die Beschreibung der einzelnen Friedhöfe wurde auf ein technisches Minimum begrenzt. Der Eindeutigkeit halber und auch um Nachkommen den Besuch von Gräbern zu erleichtern, wurde Wert auf eine genaue Lokalisierung gelegt. Von der Belegungsgeschichte sind im Grunde nur die Eckdaten der Belgungszeit notiert worden, soweit sich diese ermitteln ließen. Häufig konnte nur eine Annäherung durch die von den heute noch vorhandenen Grabsteinen abgelesenen Datierungen erreicht werden. Auch die Zahl der heute oder zum Zeitpunkt einer früheren Dokumentation noch vorhandenen Grabsteine wird jeweils angegeben. Mitunter lagen für denselben Friedhof verschiedene Zahlen vor, von denen die eine nicht zuverlässiger zu sein schien als die andere. Unter Hinweis auf die jeweiligen Quellen wurden dann beide Zahlen aufgeführt (s. z.B Dornum oder Emden). In der Rubrik Bemerkungen wurden vor allem Nachrichten über bekannt gewordene Zerstörungen resümiert. In vielen Fällen sind die Friedhöfe nach den Verwüstungen der NS-Zeit wieder in einen ansehnlichen Zustand gebracht worden. Es muß jedoch fraglich bleiben, ob in solchen Fällen die Grabsteine wirklich an die ursprünglichen Grabstellen zurückgelangt sind. Auch für die Dokumentation der Inschriften ist dies nicht ganz unerheblich, werden doch mitunter Schlußfolgerungen aus der Anordnung der Grabsteine gezogen. Weitergehende Informationen zur Friedhofsgeschichte wurden im allgmeinen nicht aufgenommen. Insbesondere wurden keine Aussagen zu den Einzugsgemeinden gemacht, d.h. zu den jüdischen Gemeinden, die das Recht hatten, ihre Toten auf einem bestimmten Friedhof beizusetzen. Jeder Friedhofsbeschreibung sind Hinweise auf Dokumentationsprojekte und Veröffentlichungen zugefügt worden. Dabei wurden standardisierte Kurzbezeichnungen verwendet, die in einer gesonderten Datei erläutert werden.
Bei der hier präsentierten Übersicht kann es sich immer nur um eine Arbeitsfassung handeln. Trotz mehrjähriger intensiver Bemühungen um eine möglichst vollständige und zuverlässige Aufnahme sämtlicher im Sinne der oben gegebenen Definition einschlägiger Informationen, wird auch die Wiedergabe des aktuellen Stands der Dokumentationstätigkeit nach Veröffentlichung der Übersicht noch so manche Ergänzung und Korrektur erfahren. Darüber hinaus besteht die Hoffnung, daß die übersichtliche Beschreibung der bereits geleisteten Arbeit neue Projekte anregen und für ihre Planung von Nutzen sein wird. Neben der systematischen Ausdehnung der Übersicht auf weitere Bundesländer wird also an ihrer ständigen Aktualisierung und Verbesserung zu arbeiten sein.
Die Durchführung dieser Konzeption für die Bundesländer Niedersachsen und Baden-Württemberg lag im wesentlichen in den Händen von Tobias Kostial, der von 1997 bis 2000 neben seinem Studium an der Hochschule für Jüdische Studien einen Tag pro Woche im Zentralarchiv tätig war.
Aus praktischen Gründen war es bisher noch nicht möglich, die Archive in den USA und in Israel nach eventuell dort abgelegten Dokumentationsergebnissen zu sichten.
Heidelberg, im Mai 2000
Peter Honigmann
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